Wir sehen hin und hören zu

Beate Gothe ist die Vorsitzende und Mareike Eßer die Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes Mönchengladbach.


Mönchengladbach. Geschäftsführerin Mareike Eßer und Vorsitzende Beate Gothe über 40 Jahre Kinderschutzbund in Mönchengladbach.

Vierzig Jahre Kinderschutzbund in Mönchengladbach – wie hat sich die Arbeit in diesen vier Jahrzehnten verändert?

Eßer Wir haben als ganz kleiner Verein angefangen – mit einer Anlauf- und Beratungsstelle für die Themen Trennung/Scheidung und Konfliktberatung. Es gab damals ausschließlich ehrenamtlich Mitarbeitende. Aber die Nachfrage war groß und wir haben uns immer stärker professionalisiert. Heute haben wir neben vielen ehrenamtlichen Helfern sieben fest angestellte, qualifizierte Mitarbeiterinnen. Erziehungsprobleme gab es zwar immer, sie haben sich aber in den letzten Jahren deutlich verkompliziert. Die Gewaltbereitschaft hat zugenommen und es gibt auch immer mehr hochstrittige Paare. Besonders in den letzten vier bis fünf Jahren sind die Zahlen hier extrem angestiegen.

Info:

Der Kinderschutzbund betreut 205 Familien
Gründung in Mönchengladbach: 1978
Anzahl der Mitglieder: 176
Angebote: Viele Kurse rund um das Thema Familie. (Angebote als PDF zum Download auf der Webseite unter Fachbereich-Informationen.)
Betreute Familien/Kinder: 205 Familien in allen Fachbereichen in 2017

Webseitewww.dksb-mg.de


Woran liegt es, dass Aggressivität und Gewaltbereitschaft so zunehmen?


Gothe Es ist überall so. Die sprachliche Verrohung im Internet zum Beispiel überträgt sich auch auf das reale Leben und wirkt bis in die Familien hinein.

Eßer Die sozialen Medien überfordern die Familien häufig. Kinder und Eltern sind einer ständigen Reizüberflutung ausgesetzt.

Gothe Und sie können sich kaum entziehen. Schon Kinder in der 2. Klasse spielen Ballerspiele, bei denen auf Menschen geschossen wird. Virtuell natürlich, aber es bewirkt trotzdem etwas in den Köpfen. Außerdem finden so in den Familien kaum noch Kommunikation und Interaktion statt.

Kinder als Opfer sind das eine, immer öfter ist auch von Kindern als Tätern zu hören. Aggressionen in der Grundschule gehören zum Alltag. Woran liegt das? Was muss sich ändern?


Eßer Wenn die Kinder schon in der Grundschule aggressiv sind, dann ist in der Erziehung etwas gründlich falsch gelaufen. Kinder werden ja nicht gewalttätig geboren. Sie sind in diesem Alter in erster Linie ein Spiegelbild von Umwelt und Familie. Das heißt, man muss in Kitas und Grundschulen präventiv arbeiten und vor allem die Eltern mit ins Boot holen. Es gibt Eltern, die erziehen mit Gewalt, aber es gibt auch solche, die gar keine Regeln setzen und das anti-autoritär nennen, weil sie sich nicht kümmern wollen. An all diese Eltern muss man herankommen.

Was ist mit denen, die ihre Kinder überbehüten?


Gothe Die gibt es natürlich auch. Man muss sich klar machen, dass Kinder sich auch mal schubsen und raufen. Das gehört zur Entwicklung dazu.

Eßer Es ist auch sehr bedenklich, wenn man sieht, welcher Konsumflut aus Geschenken Kinder heute ausgesetzt sind. Manchmal reichen drei Personen nicht aus, um zu tragen, was ein Kind zum Geburtstag bekommt. Auch das führt zu einer kompletten Reizüberflutung.

Gibt es denn auch positive Entwicklungen?


Eßer Ja, die Kinder lesen wieder mehr. Bücher sind Rückzugsorte für Kinder. Und es gibt erfreulicherweise auch eine Tendenz zum Vorlesen. Bei ausländischen Müttern haben wir sogar das Phänomen, dass sie mit Hilfe der Kinderbücher Deutsch lernen.

Der Kinderschutzbund nennt sich Lobby für Kinder. Haben Kinder eine ausreichende Lobby?

Gothe Das ist eine schwierige Frage. Ich würde sagen, die Lobby wächst wieder. Der Kinderschutzbund wird mit seinen Thesen zur Kinderarmut wieder wahrgenommen. Wir erreichen nicht jeden, aber wir bleiben dran. Lobbyarbeit ist kontinuierliche Arbeit.

Engagieren sich genug Menschen für den Kinderschutzbund?


Eßer Wir haben sehr engagierte Ehrenamtler, die großartige Arbeit leisten, aber viele von ihnen sind inzwischen über 70 Jahre alt. Bei den Jüngeren ist es schwierig, sie verpflichten sich nicht gern so verbindlich und regelmäßig, auch aus beruflichen Gründen.

Gothe Aber wir brauchen Ehrenamtler. Nur mit Hauptamtlern ist unser Angebot nicht aufrechtzuerhalten, das könnten wir nicht bezahlen.

Sie leisten Hilfe in Notsituationen. Was erleben Sie? Warum wenden sich Menschen an Sie?

Eßer Die Gründe sind sehr unterschiedlich, aber am häufigsten geht es um Gewalt in der Familie, psychische und körperliche Gewalt. Wir sind nicht aufsuchend tätig, dafür sind Polizei und Jugendamt zuständig. Aber wir sind Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche in Notsituationen. Häufig hängt die familiäre Gewalt auch mit Drogen oder Alkoholsucht der Eltern zusammen. Dann kann sich die Arbeit, die ja auf Nachhaltigkeit angelegt ist, auch über längere Zeit hinziehen, denn die betroffenen Eltern fallen unter Umständen schnell wieder in die alten Muster.

Sie arbeiten auch präventiv.


Eßer Ja, wir sind in Schulen und haben auch Lehrer und Schüler zu Gast bei uns. Das dient als Türöffner. Es ist wichtig, dass die Kinder uns kennen. Das Problem der Gewalt in Schulen wird auch dort diskutiert und bearbeitet, aber über Gewalt in der Familie wird nicht gesprochen.

Wendet sich die Prävention auch an die Eltern?


Eßer Ja, wir haben keine Altersgrenze. Wir beginnen bei der Unterstützung von jungen Schwangeren, die auf die Empfehlung von Frauenärzten hin kommen. Auch mit den Kinderkliniken arbeiten wir gut zusammen und sie empfehlen uns den Eltern. Außerdem sind wir Mitglied im Netzwerk Frühe Hilfen. Es ist wichtig, immer die gesamte Familie in den Blick zu nehmen. Wenn wir können, holen wir auch die Großeltern mit ins Boot. Unsere Beratung ist offen für jeden.

Gothe Es ergeben sich immer neue Situationen und Anforderungen, auch im Umgang mit anderen Kulturen. Da ist unser internationales Café als niedrigschwelliges Angebot und Ort des Austausches sehr wichtig.

Eßer Auch wir als Berater müssen Verständnis entwickeln und stetig dazu lernen. Deshalb haben wir im Jubiläumsjahr unser Motto geändert: „Wir sehen hin und hören zu“. Das ist die Grundlage unserer Arbeit.

Sie arbeiten eng mit Schulen und Kitas zusammen und bieten zum Beispiel in Grundschulen den Morgenmampf an. Was ist das?


Eßer Das Morgenmampfprojekt wendet sich an die Kinder, die zu Hause nicht gut versorgt werden. Es gibt Eltern, die drücken ihren Kindern zwei Euro in die Hand, damit sie sich etwas zu essen kaufen. Das soll dann den ganzen Tag reichen. Wir bieten ein ausgewogenes Frühstück an, das für alle Kinder geöffnet ist. Das funktioniert gut.

Sie leisten eine sehr wichtige Arbeit. Wie finanziert sich der Kinderschutzbund?


Eßer Zu zwei Drittel aus Spenden, ein Drittel kommt von der Stadt als Förderung für das Angebot des begleiteten Umgangs. Damit kommen wir mal mehr und mal weniger gut aus.

Gothe Leider wurden inzwischen die Bußgelder, die Vereinen von Gerichten zugesprochen wurden, gedeckelt. Dieses Gesetz sollte überdacht werden, zumal gar nicht sicher ist, dass jedes Bußgeld, das uns zugesprochen wurde, wirklich bei uns ankommt. Die Finanzierung ist nicht einfach. Deshalb sind Dauerspender ganz wichtig für uns. Wir müssen ja Gehälter zahlen und haben Kosten für Strom und Miete.

Werden Sie das Jubiläum mit einem besonderen Programm begehen?


Gothe Am 20. September, dem Weltkindertag, wird es ein großes Kinderfest auf der Hindenburgstraße vor unseren Räumlichkeiten geben. Und im November werden wir bei einem Festakt auf 40 Jahre Geschichte zurückblicken.


DAS GESPRÄCH FÜHRTEN DENISA RICHTERS UND ANGELA RIETDORF (RP)